Thalidomid und unsere Verantwortung:
10 Jahre Grünenthal-Stiftung für die Unterstützung von Thalidomid-Betroffenen Personen

Als „Grünenthal-Stiftung zur Unterstützung von Thalidomidbetroffenen“ helfen wir, die jeweilige Lebenssituation der betroffenen Menschen zu verbessern, zum Beispiel durch Umbauten im Haus. Vor 10 Jahren wurde unsere Stiftung ins Leben gerufen. Tom Hermes, Mitglied des Stiftungsteams, beantwortet einige Fragen über die Arbeit der Stiftung und unsere Stiftungsschwerpunkte in der Zukunft.

Was macht die Grünenthal-Stiftung eigentlich und wie grenzt sie sich von der Unterstützung der Conterganstiftung ab?
Die Grünenthal-Stiftung hat als Hauptziel, die Lebensqualität der Thalidomidbetroffenen zu verbessern. Da jede Lebenssituation aber individuell ist, müssen wir sehr flexibel sein und jede Anfrage neu betrachten und bewerten, inwieweit die Grünenthal-Stiftung unterstützen kann. Die Conterganstiftung kann als Bundesstiftung eine solche Flexibilität nicht leisten, da ihre Unterstützung an striktere Richtlinien gebunden ist. Aber gemeinsam sorgen die beiden Stiftungen dafür, die Lebenssituation der Betroffenen zu verbessern.

Gab es einen Betroffenen oder ein Projekt, welches Sie besonders nachhaltig geprägt hat?
Besonders geprägt hat mich der Thalidomidbetroffene, dessen Anfrage die ganze Unterstützungsinitiative ins Rollen gebracht hat. Er war an Armen und Beinen geschädigt und es war sehr bewegend zu erleben, wie dieser Mann trotz aller Probleme und Hürden dem Leben mit viel Humor begegnet.  Diese Lebenseinstellung hat mich sehr geprägt.

Tom Hermes, Mitglied des Stiftungsteam

Tom Hermes, Mitglied des Stiftungsteam

Wie haben sich die Projekte verändert, welche die Grünenthal-Stiftung fördert?
Der Rahmen unserer Unterstützung ist sukzessive erweitert worden. Wir alle brauchten Zeit, um die vielfältigen und individuellen Bedarfe zu verstehen und unsere Unterstützung darauf anzupassen. 

Hat sich der Dialog mit den Betroffenen über die Jahre verändert? Wie hat sich die Entschuldigung von Herrn Wirtz auf den Dialog ausgewirkt? 
Anfänglich waren wir sehr häufig Wut und Aggression ausgesetzt. Da hatte sich über Jahrzehnte bei den Betroffenen ein Druck gegenüber Grünenthal aufgebaut, der rausgelassen werden musste. Zu der Zeit war die finanzielle Situation der Betroffenen auch noch sehr schwierig. Seit der Rentenanpassung von 2013 und der kontinuierlichen Arbeit unserer Stiftung liegen die meisten Kontakte zwischen professioneller Distanz und freundlicher Zugewandtheit. Ich denke, dies ist mit ein Grund, warum die Entschuldigung der Familie durch Herrn Dr. Wirtz von den meisten Betroffenen so wohlwollend aufgenommen worden ist.

Neben dem Dialog mit den Betroffenen, was sehen Sie als wichtigste Aufgabe der Stiftung?
Kein Sozialsystem auf der Welt ist perfekt. Keine Gesellschaft kann alle Bedarfe ihrer Bürger befriedigen. Dabei bleiben zwischen der Deckung der Bedürfnisse und den eigentlichen Wünschen immer Lücken zurück, die wir mit der Grünenthal-Stiftung, so gut es geht, schließen wollen.

Wie sind Sie persönlich zu der Grünenthal-Stiftung gekommen?
Zum Zeitpunkt der Gründung der Grünenthal-Stiftung war ich Leiter der Abteilung für gesellschaftliches Engagement von Grünenthal, was heute unter dem Begriff Corporate Responsibility bekannt ist. So lag es nahe, die Kolleg*innen dieser Abteilung mit den anfallenden Arbeiten der Stiftung zu betrauen.

Was macht die Arbeit für Sie als langjährigen Begleiter der Grünenthal-Stiftung persönlich aus?
Für mich ist die Arbeit definitiv sinnstiftend! Das Schöne ist auch, wenn man ein Projekt so lange begleiten kann, dass man sieht, wie man gemeinsam Projekte mit den Betroffenen entwickeln kann und eine positive Rückmeldung bekommt – dass man die richtigen Dinge tut. Das ist nicht nur wichtig im Sinne der Betroffenen, sondern auch sinnstiftend für mich und das ganze Team.

Welche Prinzipien prägen Ihre Arbeit bei der Grünenthal-Stiftung am meisten?
Demut beeinflusst unsere Arbeit mit der Stiftung am meisten. Ich arbeite seit 30 Jahren für Grünenthal und mir hat das Unternehmen ein gutes Leben ermöglicht. Den Betroffenen hat ein Produkt aus unserem Haus aber die Möglichkeit genommen, selbstständig das Leben zu gestalten. Sich diese Unterschiede zu vergegenwärtigen, lässt mich sehr demütig werden. Auch wenn die individuellen Schicksale der Betroffenen sehr verschieden sind, darf man nicht vergessen, dass jeder Betroffene ohne das Präparat ein völlig anderes Leben hätte führen können.

Welche Herausforderungen warten in Zukunft auf internationale Thalidomidbetroffene?
Die Probleme der Betroffenen sind natürlich in erster Linie gesundheitlicher Natur. Die Jahrzehnte der Kompensation der geschädigten Extremitäten, zum Beispiel durch Beine und Füße, wirken sich auf den gesamten Körper aus. Jetzt, wo die meisten Betroffenen die 60 Jahre hinter sich gelassen haben, führt das dazu, dass durch Verschleiß, Schmerzen und Arthrose der ganze Bewegungsapparat in Mitleidenschaft gezogen wird. Dadurch ist ihre Mobilität deutlich geringer und Dinge, die in jungen Jahren noch autonom und selbstständig möglich waren, sind dies jetzt nicht mehr, weshalb die Betroffenen vermehrt auf Unterstützung und Begleitung angewiesen sind. Da unterscheiden sich deutsche Betroffene nicht von denen in anderen Ländern. Dort unterstützt auch die Grünenthal-Stiftung, weil unser Ziel ist, die Autonomie der Betroffenen so lange wie möglich aufrecht zu erhalten.

Wo sehen Sie für die Grünenthal-Stiftung die nächste große Herausforderung?
Ein großes Thema ist die medizinische Versorgung der Betroffenen. Es fehlt an Experten und Know-How über die spezifischen Probleme dieser Personengruppe. Wir werden gemeinsam mit den Betroffenen nach Wegen suchen, wie sich interessierte Mediziner aus aller Welt vernetzen können und Wissen so länderübergreifend verfügbar gemacht wird, um eine möglichst optimale Versorgung sicherzustellen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Grünenthal-Stiftung?
Wir stehen als Gesellschaft zur Zeit vor großen Herausforderungen. Für viele behinderte Menschen sind viele dieser Herausforderungen ohne Unterstützung nicht zu bewältigen. Wir werden als Stiftung auch in Zukunft an der Seite der Betroffenen stehen und sie dabei unterstützen, autonom zu Leben und diese Herausforderungen etwas besser meistern zu können.

Welches Fazit ziehen Sie nach 10 Jahren Grünenthal-Stiftung?
Zehn Jahre Grünenthal-Stiftung – es hat sich viel getan, wenn ich an die Anfänge zurückdenke, als wir nur punktuell geholfen haben. Jetzt sind wir international breit aufgestellt und können einer großen Gruppe an Betroffenen Unterstützung zukommen lassen – Unterstützung, die in vielen Fällen auch einen spürbaren Unterschied für die Betroffenen gemacht hat. Das motiviert uns weiterzumachen und die nächsten zehn Jahre anzugehen.

Natürlich ist es mit finanzieller Unterstützung nicht immer getan. Es ist auch wichtig, dass jemand da ist und zuhört, gerade dann, wenn jemand Schmerzen hat, wenn die Not groß ist, jemand einsam ist oder wenn die gesundheitliche Situation schlecht wird. Da gibt es immer wieder das Bedürfnis zum Austausch seitens der Betroffenen, weil sie wissen, dass sie bei der Stiftung nicht nur Geld, sondern auch Menschen finden, die intrinsisch motiviert sind zuzuhören und ihren Weg auch ein Stück weit mit begleiten möchten.